Kultursensible Psychologie gewinnt in Deutschland, Österreich und der Schweiz an Bedeutung, da Migration, Globalisierung und diverse Familienformen das gesellschaftliche Gefüge verändern. Das Konzept baut auf der Erkenntnis auf, dass Diagnostik und Intervention nicht wertfrei sind: Sie tragen die Prägung der Mehrheitskultur. Ein kultursensibler Ansatz prüft daher, ob ein Symptom pathologisiert wird, weil es tatsächlich Leid verursacht, oder weil es von der Norm abweicht, die in Lehrbüchern dominiert.
Der erste Schritt ist die Reflexion eigener Prägungen: Ein Therapeut, der Pünktlichkeit als moralische Tugend verinnerlicht hat, könnte Unzuverlässigkeit vermuten, wenn ein Klient aus einer „polychromen“ Zeitkultur zu spät erscheint. Kultursensibilität bedeutet, diesen Impuls zu bemerken und stattdessen nach sozio‑kulturellen Erklärungen zu fragen. Supervision und Selbsterfahrung helfen, blinde Flecken aufzudecken.
In der Anamnese nutzt man kulturspezifische Interviewleitfäden wie das Cultural Formulation Interview. Fragen zu Migrationsverlauf, Diskriminierungserfahrungen und religiösen Ressourcen ermöglichen ein differenziertes Bild. Besonders wichtig ist die Arbeit mit Dolmetschern: Sie müssen nicht nur sprachlich, sondern auch kulturell vermitteln. Das Dreieckssetting (Klient – Dolmetscher – Therapeut) erfordert Transparenz bezüglich Schweigepflicht und Rollen.
Kultursensible Psychologie integriert traditionelle Heilverfahren, sofern sie nicht schaden: Beispielsweise kann bei Klienten aus dem Nahen Osten das gemeinsame Rezitieren von beruhigenden Koranversen Teil des Skills‑Trainings sein. Forschungsprojekte an der Charité Berlin belegen, dass ein solches Vorgehen die Therapieabbruchsrate bei Geflüchteten deutlich senkt.
Auch das Gesundheitssystem wird unter die Lupe genommen: Sind Fragebögen nur auf Deutsch verfügbar? Gibt es barrierefreie Zugänge für Personen ohne Aufenthaltsstatus? Therapien ohne diese strukturelle Perspektive riskieren kulturelle Kronzeugenbefragung statt echter Teilhabe.
Fortbildungen zu kultursensibler Praxis bieten die Bundespsychotherapeutenkammer und NGOs wie „TransVer“. Dort lernen Fachkräfte, wie transkulturelle Kompetenz, Anti‑Bias‑Training und intersektionale Analyse zusammenwirken. Das Ziel ist eine Psychologie, die kulturelle Diversität nicht als Störfaktor, sondern als Ressource begreift – und so Räume schafft, in denen alle Stimmen gehört werden.