Multikulturelle Psychologie hat das Ziel, eurozentrische Scheuklappen in Forschung und Praxis abzulegen. Sie fragt: Wie prägen Kolonialgeschichte, Migrationsbiografien, religiöse Narrative und sozioökonomische Ungleichheit unser Verständnis von Normalität? Die Disziplin nutzt Modelle wie das „Cultural Identity Development“ und das „RESPECTFUL‑Framework“, um Therapiesettings kultursensibel zu gestalten.
In Deutschland rückt das Thema angesichts von über 20 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in den Fokus. Kultursensibles Assessment beginnt mit mehrsprachigen Fragebögen und endet nicht bei Dolmetschern: Es umfasst Wissen über Fluchterfahrungen, transgenerationale Traumata und patriarchale Strukturen in Herkunftsgesellschaften. Ein kurdischer Klient, der Schlafstörungen hat, könnte Albträume über Kriegserlebnisse verbergen, weil Ehre (Şeref) Schweigen gebietet.
Therapieansätze: In der narrativen Expositionstherapie verknüpft man Lebenslinie mit traditionellen Symbolen (Teppich, Perlen). In ACT wird der Wert „Familienehre“ exploriert, um Handlungsziele zu definieren. Gruppenangebote fürs dritte Alter kombinieren türkische Musik mit Körperübungen gegen Einsamkeit.
Empirische Evidenz: Eine Studie der LMU München (2024) zeigte, dass kultursensitive CBT bei arabischsprachigen Geflüchteten die Drop‑out‑Rate halbierte. Entscheidend waren kulturspezifische Metaphern (Sandsack vs. Oase) und Einbindung von Imamen.
Multikulturelle Psychologie fordert Selbstreflexion der Therapeuten: Weißsein, Akademikerstatus oder heteronormative Annahmen können blinde Flecken erzeugen. Fortbildungen zu Critical Race Theory und Antibias‑Methoden gehören daher zum Pflichtprogramm.
So verwandelt sich Psychotherapie von einem Exportprodukt westlicher Wissenschaft in einen Dialograum, in dem Vielfalt nicht Störfaktor, sondern Grundlage für heilende Geschichten ist.