In der deutschsprachigen Psychotherapielandschaft gewinnt die Narrativtherapie zunehmend an Bedeutung, weil sie einen konstruktivistischen Blick auf menschliches Erleben richtet. Im Zentrum steht die Annahme, dass Biografie nicht aus objektiven Fakten besteht, sondern aus Bedeutungen, die wir Ereignissen zuschreiben. In der Praxis lädt die Therapeutin Klientinnen ein, ihre „Problemgeschichten“ zu erzählen, während sie aufmerksam auf Metaphern, wiederkehrende Motive und verschüttete Ressourcen achtet. Der erste Schritt ist die Externalisierung: Depression wird zur „grauen Wolke“, Perfektionismus zum „inneren Antreiber“. Durch diese Versprachlichung entsteht Abstand, der neue Handlungsspielräume eröffnet.
Ein häufig verwendetes Werkzeug ist das „Lebensbuch“. Dabei werden Lebensabschnitte auf leeren Seiten notiert, und der Klient entscheidet, welche Kapitel umgeschrieben, gekürzt oder mit neuen Perspektiven ergänzt werden sollen. Studien der Universität Heidelberg zeigen, dass diese Methode Selbstwirksamkeit stärkt und die Rückfallquote bei affektiven Störungen senkt. In der Arbeit mit Paaren erstellen Partner*innen parallel zueinander „Wir‑Erzählungen“, um Gemeinsamkeiten jenseits von Konflikten sichtbar zu machen.
In psychiatrischen Kliniken werden narrative Gruppen eingesetzt, um die oft defizitorientierte Krankenakte zu konterkarieren. Patient*innen gestalten Collagen oder Hörstücke, die nicht nur Symptome dokumentieren, sondern persönliche Stärken betonen. Diese Produkte werden auf freiwilliger Basis im Behandlungsplan hinterlegt, sodass medizinisches Personal einen facettenreicheren Zugang erhält. Darüber hinaus findet Narrativtherapie Einzug in die Arbeit mit Geflüchteten: Mehrsprachige Story‑Circles ermöglichen das Erzählen traumatischer Fluchterfahrungen in einem sicheren Rahmen, während gleichzeitig zukunftsorientierte Kapitel – Ausbildung, Freundschaften, neue Heimat – entworfen werden.
Ethik spielt eine zentrale Rolle: Transparenz, Würdigung kultureller Hintergründe und die Vermeidung von Re‑Traumatisierung sind essenziell. Die Therapeutin versteht sich als Kollaborateurin, nicht als Expertin über das Leben des Anderen. Indem Klient*innen erkennen, dass sie Autor*innen ihrer Geschichte sind, kann selbst eine lange Tradition von Selbstzweifel umformuliert werden. So wird Narrativtherapie zu einer Bühne, auf der Identität kontinuierlich aufgeführt, reflektiert und transformiert wird.